Ich verstehe nur Bahnhof.
Französisch morgens, mittags, abends. Okay, morgens mehr als abends, aber in einer Schule, die sich europäisches Institut für Französisch nennt, ist das ja irgendwie fast schon keine Überraschung mehr.
Das Problem dabei ist, dass es kein Anfängerkurs ist. Gibt es erst ab nächster Woche. Hatte mir die Organisation anders erklärt, aber hey! Ich zahle ja nur ein paar tausend Euro für den Aufenthalt hier. Neben mir sitzt ein Mädchen, welches jahrelang französisch in der Schule hatte und jetzt Angst hat, die Abschlussprüfung nicht zu schaffen. Da frage ich mich doch: Was zur Hölle hast du denn die letzten Jahre gemacht? Sie kann zumindest mehr als ich. Keine Kunst. Davon abgesehen ist sie aber trotzdem sehr nett.
Meine Motivation ist also nur so meh. Dazu kommen unregelmäßige Wellen von Heimweh. Ich bin so, so dankbar für alle Menschen, die mir das hier ermöglichen und mich unermüdlich unterstützen.
Es klingt naiv. Ich bin nur hier, um spaßeshalber eine neue Sprache zu lernen. Nein, ich kann noch nichts. Trotzdem wollte ich das unbedingt machen.
Die Gründe dafür sind aber komplexer. Durch meine Vergangenheit hatte ich immer eine unsichtbare Kette, die mich zu Hause festgehalten hat. Nie über Nacht bei einer Freundin sein, nie allein auf Klassenfahrt. Durch die Transplantation konnte ich diese Kette zwar verlängern, aber durchschneiden konnte ich sie nie. Ich brauchte mein Umfeld, meine Klinik, mein Sicherheitsnetz. Dass ich es hier nicht habe, ist beängstigend.
Beängstigend und so unglaublich befreiend.
Bis auf eine meiner Gastschwestern weiß niemand von meiner Krankheit. Niemand weiß von der Transplantation. Ich muss keine Fragen beantworten und werde nicht anders behandelt. Ich bin zu einhundert Prozent einfach nur eine ganz normale junge Frau mit einem ganz normalen Leben.
Seit einer Weile spiele ich auf meinem Handy ein Spiel, welches mich durch seine Pixelgrafik an meine Kindheit erinnert. Man muss hauptsächlich rumlaufen und äußerst langwierige, unaufregende Aufgaben erledigen. Ich bin so süchtig danach. Denn es ist das, was ich nie sein konnte.
Normal, unaufregend, durchschnittlich.
Natürlich bin ich nicht blauäugig hier her gefahren. Ich habe mich vorab informiert, eine Auslandskrankenversicherung abgeschlossen und für alle Eventualitäten Medikamente dabei, war zu allen Vorsorgeuntersuchungen und eine Woche vor meiner Abreise in meiner Transplantationsklinik zur Kontrolle. Wäre nicht alles im grünen Bereich gewesen, wäre ich nicht her gekommen.
Aber es tut mir so gut, das alles für eine Zeit lang weit weg zu haben.
Ich hab gedacht ich hab sie abgehängt
Aber sie holt mich immer wieder ein
Sie tut mir bis heute weh und hat mich so oft abgelenkt
Vielleicht brauch‘ ich noch mehr Zeit
Ich will nicht traurig sein und ich will nicht drüber reden
Ich will der ganzen Scheiße nicht nochmal begegnen
Ich will ein Meer zwischen mir und meiner Vergangenheit
Ein Meer zwischen mir und allem was war
Ich liebe meine Freunde und wie wir miteinander sind
Trotzdem muss ich möglichst schnell irgendwo anders hin
Irgendwo wo im Winter die Sonne scheint
Wo ich allein und ohne Vergangenheit von vorn anfangen kann
Vielleicht lerne ich irgendwann verzeihen
Ich will einen Ozean
AnnenMayKantereit – Ozean
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