My oh My. Wo soll ich anfangen?
Keine Ahnung, wie ich es durch dieses Jahr geschafft habe. Jedes Jahr hat immerhin seine ganz eigenen Höhen und Tiefen, aber ich glaube, wir sind uns einig, dass nichts bisher mit diesem Jahr vergleichbar ist.
Januar
Ich bin gerade noch rechtzeitig Ende letzten Jahres für drei Monate nach Frankreich gegangen. Es war schon immer mein Wunsch gewesen, im Ausland zu leben und es sollte wohl weder später noch länger sein. Nach dieser Zeit der Trennung wollten Christian und ich Silvester nicht auf einer Party sondern lieber nur zu zweit verbringen. Als wir um Mitternacht das neue Jahr begrüßten hatten wir keine Ahnung wie viel Zweisamkeit auf uns zukam. Trotzdem bin ich dankbar für diese Möglichkeit, unsere Beziehung hat sich dadurch noch einmal intensiviert.
Das Jahr fing brachte nämlich noch ganz neue Erfahrungen: Arbeit! Ich habe meinen Job bei der Kinderhilfe Organtransplantation angefangen und das hieß für mich knapp 800km jede Woche zurückzulegen.
Um halb vier Uhr morgens aufstehen, mit der Tram zum Bahnhof, dann tschu-tschu vier Stunden im Halbschlaf mit dem Zug durchs Land, arbeiten, ins Hotel laufen, dort übernachten, am nächsten morgen wieder frisch ans Werk und dann tschu-tschu wieder zurück. Den Rest der Zeit hieß es für mich sowieso schon Homeoffice.
Überraschenderweise habe ich das eigentlich ganz gut weggesteckt, nur das ständige unterwegs und nicht zu Hause sein hat genervt. Was für eine Ironie.
Zwischen zwei Arbeitswochen in Frankfurt sind meine Mutter und ich spontan an die Ostsee gefahren, was mir zwar eine krasse Erkältung, aber auch den einzigen Urlaub in diesem Jahr bescherte. Für mich war es der erste Urlaub an der Ostsee und ich fand es wunderschön. Das Meer in der Kälte hat einen ganz besonderen Reiz.

Februar
Der Februar war für Vor-Corona-Verhältnisse vollkommen unspektakulär und doch der letzte Monat, der normal war. Hätten wir es gewusst, ob wir dann wohl etwas anderes draus gemacht hätten?

März
Das Drama beginnt. Wobei, eigentlich geht es ja alles noch ganz entspannt los. Es kommen zwar die ersten ernsten Gespräche über Corona auf, aber immerhin gibt es das in Deutschland nicht und daran glauben, dass er hierher kommt will man einfach nicht.
Doch irgendwann kann man es selbst mit Scheuklappen nicht mehr übersehen. Die Geburtstagsreise nach Tschechien, die wir einer Freundin schenken wollen, wird zu einem Essen im tschechischen Restaurant. Zum Glück, denn während des Essens erfahren wir, dass die Grenzen geschlossen werden. Wer weiß, ob wir überhaupt wieder nach Hause gekommen wären. Das Essen hat einen komischen Beigeschmack, ich gehe alle 10 Minuten, entweder um mir die Hände zu waschen oder einen Anruf aus der Familie anzunehmen. Fragen, ob ich es schon gehört habe, ob es mir gut geht und was ich jetzt mache.
Der Entschluss fällt: Morgen geht es in Quarantäne. Und auf einmal ist der komische Beigeschmack ein trauriger geworden, das vorerst letzte Essen gemeinsam mit Freunden. Am nächsten Morgen bin ich noch einmal zum Frühstück dabei, doch als sich alle losmachen, um den ersten warmen Tag zu genießen, fahre ich wieder nach Hause und verabschiede mich von Christian. Er wird ausziehen. Immerhin arbeitet er im Krankenhaus. Es wäre ein zu großes Risiko. Es ist ja nicht für immer, reden wir uns ein, immerhin waren wir letztes Jahr schon drei Monate getrennt. Dagegen wird das jetzt nur wie ein langes Wochenende…
Und es hat ja auch Vorteile: ich muss nicht mehr nach Frankfurt pendeln, ich habe Zeit, endlich mal wieder Harry Potter zu lesen, zu häkeln, Lego zu bauen und Stardew Valley zu spielen und hey, ich könnte mir die Sims 4 kaufen…
Aber die Angst war immer da und auch die Einsamkeit wurde mit jedem Tag größer.

April
Schließlich wurde es so schlimm, dass ich einfach nicht mehr weiter machen konnte und Christian hat mich eines Tages rausgeholt. Er war einfach nur da, während ich ein langes Bad genommen und auf dem Sofa gelegen habe. Zu mehr hat mir die Energie gefehlt. Aber er war da. Und das war alles, was ich gebraucht habe.
Ich konnte unmöglich nicht länger allein sein und so ist er wieder zu mir gezogen.
Natürlich war es ein Risiko. Aber was ist ein physisches Risiko, wenn man psychisch unausweichlich krank wird?

Mai
Mit Christian an meiner Seite wurde es langsam wieder besser. Ich habe die Zeit genutzt, um mir Ziele zu setzen und sie zu erreichen. Meine Nähmaschine gab mir eine kreative Aufgabe. Aus meinem Kopf sprudelten Ideen und ich versuchte alles festzuhalten und umzusetzen so gut ich konnte.
Jeden Tag wartete ich darauf, dass Christian nach Hause kommt, wie ein Hund auf sein Herrchen. Es war mein Highlight das Tages, wenn ich den Schlüssel im Schloss hörte. Und selbst, wenn er sich für ein Nickerchen hinlegte, war alles besser, nur weil er da war. Die Einsamkeit hatte Narben hinterlassen.

Juni
Langsam und nur mit Abstand traf ich inzwischen auch einzelne Freundinnen, damit ich nicht völlig verrückt wurde und es half. Einfach mal jemand anderen zu sehen und mit jemand anderem zu reden ist etwas sehr befreiendes. Da kommt kein Videotelefonat jemals ran. Umso schlimmer, dass wir bald umziehen würden. Ich hatte zwar durch Corona bisher im Homeoffice arbeiten können, aber mit etwas Glück würde es ja auch eine Zeit danach geben und ich konnte ja nicht für immer durchs ganze Land fahren, wenn ich ins Büro fahre. Wir haben auch eine wirklich schöne Wohnung gefunden und für mich konnte das nur eines bedeuten: Ich wollte mich unbedingt noch mal mit den Menschen treffen, die ich bald so sehr vermissen würde.

Juli & August
Und zum Glück ging das im Sommer wirklich gut. Natürlich trotzdem mit Abstand und am besten draußen, aber im Sommer war das zum Glück möglich. Wir sind an den See gefahren, haben Picknicks gemacht und waren einfach draußen. Unsere Wohnung hat einen rundum-Anstrich bekommen und wir waren eigentlich nur noch im Stress, weil noch so viel für den Umzug zu organisieren war.
Doch es hat sich ausgezahlt, der Umzug lief reibungslos und obwohl es so anstrengend war, habe ich mich auch sehr auf unser neues Zuhause gefreut.


September
Und es kam sogar noch besser, wir haben einen kleinen Garten ganz in der Nähe gefunden. Schon als ich ein Kind war, wollte ich immer einen Garten haben. Wir haben mitten im Umzug also angefangen im Garten zu werkeln und dort eine kleine Hütte aufgebaut. Zwar haben wir hier immer noch zwischen Kartons geschlafen, aber der Garten war kurz wichtiger. Jetzt steht Sven, die Gartenhütte mit seinen Regentonnen-Kumpels da und wartet wie wir auf den Frühling. Aber im September gingen auch meine ersten Bauch-Beschwerden los. Ständig hat irgendwas wehgetan, war aufgebläht oder mir war übel. Ich ließ mich untersuchen und krankschreiben. Doch gefunden wurde nichts.

Oktober
Ich war zu einem Fotoshootings eingeladen worden und hatte mir eine Woche Urlaub genommen, um dafür nach Berlin zu fahren. Da ich mir so lange Autofahrten durch meinen Gesundheitszustand im Moment nicht zutraue, habe ich meine Mama besucht und wir haben einen Tagesausflug daraus gemacht. Davor hab ich nochmal einen Abstecher in die heimische Notaufnahme gemacht, weil der Bauch schon wieder rebelliert hat. Weil ich nun auch schon mal in der Heimat war, habe ich auch den Rest meiner Familie – wieder mit Abstand – besucht. Ich war mir des Risikos bewusst, aber im Nachhinein bin ich froh, es getan zu haben. Es war das einzige Mal seit Februar, dass ich sie gesehen habe. Kurz darauf begann der neue Lockdown in der light Version. Für mich machte das allerdings keinen Unterschied, denn ich blieb sowieso 98% der Zeit in Selbstisolation.

November
Der Unterschied zum Frühling ist, dass mir hier das soziale Bezugssystem fehlt. Es sind nur Christian und ich. Aber ich bin nicht wieder völlig auf mich allein gestellt. Auch wenn mir auffällt, dass die Situation so sehr zum Alltag geworden ist, dass jede*r wieder das eigene Ding durchzieht und einige Kontakte dadurch verloren gehen. Das ist zwar schade, aber man erkennt die Personen, die trotz allem da bleiben.
Der November war hart. Physisch und psychisch. Und doch habe ich es geschafft, jeden Tag aufzustehen, selbst wenn es manchmal nur bis zum Sofa gereicht hat. Mit Wärmflasche bewaffnet habe ich die Tage durchgestanden und plötzlich war der November auch schon wieder vorbei. Denn egal wie schwer es ist, nach 24 Stunden kommt ein neuer Tag und damit eine neue Chance, dass es ein guter Tag wird.

Dezember
Es wird wieder leichter. Es kommen neue Ziele und Aufgaben und auch wenn es anstrengend ist, immer nur auf eine Veränderung zu warten, irgendwann kommt sie. Ich schätze im Moment warten wir alle nur ab, dass sich etwas verändert und alles besser wird. Doch was machen wir mit der Zeit, bis es soweit ist? Wir überstehen sie. Wir nutzen sie, um uns auszuruhen, um etwas neues zu probieren, zu verzweifeln, um etwas über uns selbst zu lernen.

Was mache ich jetzt mit diesem merkwürdigen Jahr 2020?
Ich werde einen Platz in meinem Herzen dafür frei räumen. Denn ja, dieses Jahr war schrecklich, es war einsam und extrem belastend.
Aber war es auch ein Jahr, in dem meine Leber gesund geblieben ist, meine Beziehungen stärker und meine Ziele klarer wurden. Ich bin ein Stück über mich selbst hinaus gewachsen.
2021, bitte mehr davon.
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