Stimmungssturm

„Geistig gesund zu sein ist immer ein gegenwärtiger Zustand. Geistige Gesundheit existiert nicht als monolithischer Block, sondern als ein Gleichgewicht, das erhalten werden muss. Manchmal wird das, was dieses Gleichgewicht ermöglicht, von einem äußeren Ereignis übermannt. Es kann etwas Gewaltiges, im wahrsten Sinne Erschütterndes sein, eine Sache weniger Augenblicke. Es kann aber auch schleichend kommen, beispielsweise als Folge von Gedanken, die Erinnerungen oder Bilder wecken. Das alles kann das Gleichgewicht so sehr stören, dass das Boot kentert. Das nennt man Kontrollverlust.“

– Cody McFadyen

Die Gezeiten werden vom Mond geregelt, seine Anziehung und Abstoßung stehen im Einklang, bilden ein Gleichgewicht und folgen dem ewigen Rhythmus der Mondbahn. 

Meine Gezeiten sind anders. Sie kommen unregelmäßig, plötzlich und unaufhaltsam. 

Nicht der Mond bewegt meine Meere, sondern der Wind, der mich durchs Leben trägt, mich antreibt, mir die Richtung vorgibt oder mich gnadenlos hin und her peitscht.

Das ist mein Kopf. Die meiste Zeit wirbeln quirlige Gedanken hindurch, an einigenTagen ist die Welt in gleißenden Sonnenschein gebadet. Doch in manchen Zeiten gewinnt ein Sturm die Oberhand und lässt nichts anderes mehr zu. Der Sturm fegt alles nieder, was sich aufgebaut hat, ohne Rücksicht und ohne Gnade.

Dieser Sturm ist ein Depressiven Schub. Ein Schub ist etwas Endliches, etwas, das ich überstehen kann und was nicht permanent bleibt. Es ist wichtig, es Schub zu nennen, damit ich nicht vergesse, dass es eine Phase ist. Nenne ich es Depression ist es endlos und beängstigend. 

Es geht immer mit der Ebbe los, schleichend und zunächst kaum bemerkbar. Meine Gefühle nehmen ab, sinken in meine Tiefen zurück und werden immer durchscheinender. Bis ich schließlich merke, wie gleichgültig ich bin, dass sich nicht mehr viel in mir rührt. Und dann heißt es abwarten. Versuchen, gegen zu steuern, sich selbst anzutreiben mit Musik, mit Bildern, mit Liebe. Aber doch fehlt mir der Antrieb, um etwas erreichen zu können, um überhaupt etwas erreichen zu wollen.

Niemand kann daran etwas ändern, niemand kommt tief genug. Bei der Ebbe möchte ich nur allein sein.

Manchmal ist alle Energie weg. Jeder Teil des menschlichen Lebens ist plötzlich eine unüberwindbare Aufgabe. Aufstehen. Anziehen. Die Wohnung verlassen. Alles Selbstverständlichkeiten, die mir mein eigener Kopf nicht mehr erlaubt. Und ich kann mich nicht dagegen wehren.

Geist über Materie.

Nach der Ebbe kommt die Flut, stark und unberechenbar. Niemand kann sagen, was sie mit sich bringt und was sie bewirkt. Die Flut kann aus Energie bestehen, rast- und haltlos, sodass ich keine Minute mehr zu Ruhe kommen kann, mein Kopf aufgepeitscht von Winden, die mir wirre Gedanken zuflüstern. Nachts um vier räume ich die Wohnung auf, bis alles an einem neuen Platz steht, alles aus den Schränken geworfen und wieder wegsortiert, hundert Listen geschrieben, mit Dingen, für die ich am Morgen zu kaputt sein werde. Aber aufhören geht nicht. Es ist, als ob die Energie mich treibt, wie eine Marionette. Die Augen brennen, der Körper will abschalten, aber der Kopf ist zu stark. Die Zeit für Kunst.

Die Flut kann aber auch anders sein, launisch und gefährlich. Die Flut kann mich ersticken und begraben unter all den Emotionen, die ich mit der Ebbe nicht fühlen konnte. Nichts kann die Wellen stoppen, die mich an die Küste spülen, welche mich gegen die Klippen schlagen und wieder in die Tiefe ziehen. Es ist ein Ertrinken, welches einen nicht aufatmen lässt. Es zieht den Kopf wieder hinunter, sobald man einen Blick auf den Horizont werden kann.

Doch die Wellen werden wieder kleiner. Sie werden schwächer. Irgendwann beruhigen sich die Gezeiten und der Wind lässt mich wieder frei. All seine Kraft hat Risse und Spalten hinterlassen, aber die Gezeiten zeichnen ihre Umwelt ununterbrochen und halten die Welt im Wandel.

Und meine Gezeiten wandeln mich.


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